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+++ Das Buch der Freude +++ Dalai Lama +++ Erzbischof Desmond Tutu +++

Lieber Uwe!

Zwischen Palmsonntag und Ostern schickst du mir jeden Tag ein Zitat aus dem „Buch der Freude“, das du gerade in einer Zeit liest, die für Viele mit sehr wenig Freude, eher mit Sorgen und Ängsten verbunden ist.
In diesem Buch geht es um zwei alte Männer, die fünf Tage in Indien verbringen und über die Freude reden. Es handelt sich um den Dalai Lama, geistiges Oberhaupt der Tibeter, und Desmond Tutu, pensionierter Erzbischof der Anglikanischen Kirche in Südafrika. Beide haben in ihrem langen Leben sehr viele Krisen und bedrohliche Situationen erlebt und schildern eindrücklich, wie sie durch einen Perspektivwechsel, durch eine andere Sichtweise, sogar gestärkt daraus hervor gekommen sind.
Das erste Zitat, das du ausgesucht hast, lautet:
"Wenn sich etwas an der Situation ändern lässt, warum dann niedergeschlagen sein? Und wenn sich nichts daran ändern lässt, was nutzt es, wenn man niedergeschlagen ist?" (S.237)
Ich erinnere mich daran, dass ich mich tatsächlich sehr niedergeschlagen fühlte, als die Corona-Krankheit Deutschland erreichte. Zuerst traute ich meinen Augen nicht, als der Superintendent in einem Rundschreiben mitteilte, dass es mindestens fünf Wochen lang keine Gottesdienste geben würde. Ausgerechnet in Krisenzeiten sollten doch Kirchen offen stehen, um den Menschen einen Zufluchtsort anzubieten, um beten zu können und um Trost zu finden.
Noch unerträglicher war es für mich, als die Senioreneinrichtungen ihre Türen für Besucher schlossen. Für viele Bewohner ist doch der Besuch von Angehörigen die größte Freude. Auch außerhalb der Heime sitzen nun viele Menschen in ihren Wohnungen und dürfen ihre Häuser nicht mehr verlassen. Gottesdienste und Förderung von Gemeinschaft gehören zu den wichtigsten Aufgaben einer christlichen Kirchengemeinde.
In dieser Situation musste ich etwas tun, was ich niemals tun wollte: Die Kirche und das Gemeindehaus für unbestimmte Zeit schließen, um die Gesellschaft vor der unkontrollierbaren Ausbreitung eines Virus zu schützen. Drei Tage lang war ich rund um die Uhr damit beschäftigt, Veranstaltungen und Sitzungen abzusagen. Das war eine ganz schlimme Erfahrung.
Mir fällt es sehr schwer, nicht niedergeschlagen zu sein, wenn ich das Gefühl habe, an einer schlimmen Situation nichts ändern zu können.

Lieber Michael,

ich kann Deine Gedanken gut nachvollziehen! Mir ging es ähnlich, als ich realisieren musste, dass aus unseren durchgeplanten Osterferien nichts werden würde. Wir hatten uns so darauf gefreut, nach anstrengenden Arbeitswochen eine Städtereise mit unserer Tochter zu machen: Nettes Hotel, Frühstücksbuffet, Museumstour, Theaterbesuch... Das alles sollte nun ins Wasser fallen. Ich gebe zu, dass ich zunächst auch niedergeschlagen war. Als Kind würde man vielleicht anfangen, zu weinen, mit dem Fuß aufzustampfen, oder laut die Tür zu schlagen. Aber als Erwachsener? Es gehen einem Gedanken durch den Kopf: Womit haben wir das verdient? Jetzt, wo das Wetter so schön werden soll, den ganzen Tag im Hause sitzen. Keine Besuche bei Familie oder Freunden. Sind alle Begrenzungen nötig?
Die "Einsicht" der beiden geistlichen Herren war auch bei mir nicht von Anfang an da! Auch der Dalai Lama und Desmond Tutu beschrieben im Buch, dass ihre Erkenntnis "Und wenn sich an einer Situation nichts ändern lässt - was nutzt es, wenn man niedergeschlagen ist?" während ihres gesamten Lebens wachsen und sich entwickeln musste.
Und so veränderte sich meine innere Haltung zum Umgang mit der Corona-Krise in den letzten Wochen, frei nach der Devise:
Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Wesentlich dazu bei trugen vielfältige Informationen aus den Medien, aus denen hervorging, dass wir alle - in unterschiedlicher Weise und wir persönlich in sehr erträglichem Maß - von dem Problem betroffen sind, wir aber durchaus etwas ändern können.  "Ändern" im Sinne von Wege finden, mit der Krise besser zurechtkommen, die Perspektive wechseln, so dass das Glas nicht halbleer, sondern halbvoll ist, Niedergeschlagenheit in Zuversicht verwandeln etc.
Machen wir uns also mutig auf den Weg, "Wege in der Krise und nach der Krise", als "aus der Krise heraus" zu suchen. Letztere liegen sicher nicht in unserer Macht. Ich bin fest davon überzeugt, dass, ähnlich wie die beiden geistlichen Herren, unsere "Weisheit" in Form von Kreativität und Improvisation zunehmen wird.

Lieber Uwe!

Du beschreibst genau das, was ich nach den ersten drei Tagen niedergeschlagener Stimmung dann selbst erleben durfte: Nachdem das Veranstaltungsprogramm unserer Kirchengemeinde heruntergefahren war, Gottesdienste, Konzerte und Sitzungen abgesagt und sogar die Konfirmationen verschoben waren, erlebte ich etwas Unerwartetes: Es entstanden Freiräume, um Neues zu planen. Viele Menschen teilten mir ihre Ideen mit, wie man in dieser schwierigen Zeit trotz des Kontaktverbotes im Sinne einer christlichen Gemeinschaft leben und füreinander da sein kann. Nur wenige Menschen sprachen mit mir über ihr eigenes Leid. Stattdessen wurde überlegt, wie man denen helfen kann, die jetzt zuhause bleiben und auf sich aufpassen müssen. Jugendliche Konfirmanden und auch Erwachsene boten an, für andere Menschen einkaufen zu gehen. Eine Mitarbeiterin unserer Gemeinde schlug vor, denen eine Postkarte oder einen Brief zu schreiben, die sonst gerne in unsere Gottesdienste kamen. Viele Angebote zur Hilfe in Not geratener Menschen folgten. Ich durfte also miterleben, dass viele Gemeindeglieder den Wunsch hatten, gerade jetzt die Situation nicht einfach hinzunehmen, sondern daran etwas zu ändern. Das war für mich eine riesengroße Freude!
Du, lieber Uwe, gehörst ja auch zu den Menschen, bei denen sich nicht alles nur um sie selbst dreht. Du schickst mir Zitate aus dem „Buch der Freude“, weil du mich gut kennst und weißt, dass die Freude ein kraftvoller Motor ist, um Gemeinschaft am Leben zu erhalten. Dazu passt das zweite Zitat, das du mir am Palmsonntag geschickt hast:
"Wir sind dazu bestimmt, in Freude zu leben... Doch das bedeutet nicht, dass das Leben einfach oder schmerzlos sein wird. Es bedeutet, dass wir unser Gesicht in den Wind drehen und akzeptieren, dass wir durch dieses Gewitter hindurch müssen. Es wird uns nicht gelingen, seine Existenz zu leugnen. Die Akzeptanz der Realität ist der einzige Ort, an dem die Veränderung beginnen kann.”

Lieber Michael,

dass ich Dir das Zitat gerade am Palmsonntag geschickt habe, ist vielleicht ein Zufall - oder nicht? Denken wir an die Bedeutung dieses Tages: Er erinnert die Christen an den Einzug von Jesus nach Jerusalem, wo er das Pessachfest erleben wollte. Als er auf einem Esel in der Stadt ankam, begrüßten ihn die Menschen wie einen König. Sein Leben schien einfach und gut - dass es auf dramatische Weise enden sollte, war gewiss auch dem Umstand geschuldet, dass „er sein Gesicht in den Wind gedreht" und sich nicht selbst verleugnet hat. Aber die theologische Interpretation überlasse ich lieber Dir!
Leider erleben wir in diesen Tagen einige Politiker, die anfangs das "Gewitter Corona" geleugnet und bagatellisiert haben. Sie haben ihr "Mäntelchen" aus populistischen Gründen buchstäblich nach dem Wind gehängt. Dass damit wertvolle Zeit vergeudet worden ist, ist eine Neben-Wirkung dieser Haltung. Gott sei Dank haben andere Verantwortliche aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft etc. die Realität einer Pandemie erkannt, akzeptiert und damit - wie es im Gespräch vom Erzbischof und dem Dalai Lama deutlich wurde - Veränderungen herbeigeführt. Obwohl sie so sehr unser Leben beeinflussen, werden sie doch von der überwältigenden Mehrheit in der Gesellschaft akzeptiert. Schon Sokrates hat 470 vor Christus die Auffassung vertreten: "Es kommt nicht darauf an, woher der Wind weht, sondern, wie man die Segel setzt." Vertrauen wir darauf, dass die Segel richtig gesetzt sind - dann werden wir zukünftig wieder in Freude leben können."

Lieber Uwe!

Leider muss ich gestehen, dass auch ich bis vor wenigen Wochen zu denen gehörte, die keinerlei Vorstellung davon hatten, wie schnell das Corona-Virus sich verbreiten kann und wie gefährlich es sein würde. Natürlich gab es viele Warnungen in den Medien – aber es gab auch andere „Wissenschaftler“, die mich glauben ließen, dass es eher um eine normale Grippe ginge. Wahrscheinlich habe ich denen, die das Problem verharmlosten, deshalb geglaubt, weil ich mir die Szenarien der Anderen nicht vorstellen wollte. Inzwischen schäme ich mich für diesen Irrtum, weil ich es hätte besser wissen können. Übrigens hilft es mir keineswegs, dass ich mit diesem Irrtum nicht alleine war. Es ist zu einfach, jetzt die Schuld bei Anderen zu suchen. Ich habe an dieser Stelle selbst versagt.
Dein zweites Zitat fordert mich nun auf: „Wir sind bestimmt, in Freude zu leben!“
Das hilft mir, meine Schuldgefühle – seien sie verborgen oder offensichtlich – zu überwinden. Selbst, wenn ich Fehler gemacht habe, soll mich das nicht davon abhalten, mich zu ändern und nach neuer Freude zu suchen. Gott ist derjenige, der bestimmt, wie wir leben sollen.
Im Johannesevangelium ist überliefert, dass Jesus sich vor seinem Tod von seinen Jüngern verabschiedete und ihnen sagte: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen; ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll zur Freude werden. Eine Frau, wenn sie gebiert, so hat sie Schmerzen, denn ihre Stunde ist gekommen. Wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist. Auch ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen.“ (Johannes 16,20-22)

Lieber Michael,

in der Textstelle von Johannes wird angesprochen, was offenbar auch im nächsten Zitat des Dalai Lama gemeint ist: Alles wird gut! Wir dürfen nur nicht ungeduldig werden, wir müssen uns Zeit lassen für "Wandlungen".
"Es gibt ein tibetanisches Sprichwort, dem zufolge sich Schicksalsschläge in Chancen verwandeln können”, sagte der Dalai Lama, “...es sind tatsächlich die schmerzlichen Erfahrungen, die ein Licht auf das Wesen des Glücks werfen, weil sie einen scharfen Kontrast zu den erfreulichen Erfahrungen bilden”.(S.160)
Was könnte nun mit Wandlung, Verwandlung gemeint sein? Ich kann mir darunter Umgestaltung, Umkehr, Besserung vorstellen. Konkret bedeutet das für mich, dass ich bereits in den Wochen der Beschränkungen meinen Alltag umgestalten musste - mit einigen überaus positiven Veränderungen. Zum Beispiel nicht schon um sechs Uhr aufstehen, regelmäßige Mahlzeiten, mehr Zeit für Gespräche mit meiner Frau, die Beantwortung von E-Mails und das Zeitunglesen etc.

Versteht man unter umkehren einen Richtungswechsel, die Einsicht, einen falschen Weg eingeschlagen zu haben, mit einem anschließenden Aufbruch in eine neue Richtung, dann ist mein persönliches Beispiel das tägliche Wandern in unsere tolle Umgebung - runter vom Sofa, rein in den Süntel ! Bleibt noch die Besserung: Wenn ich das auch mit etwas verbessern verdeutlichen kann, haben sich einige soziale Kontakte  während der Corona-Krise verbessert. Trotz, oder sogar wegen der Einschränkung der sozialen Beziehungen auf das Nötigste, habe ich mehr die digitalen Medien genutzt und mit vielen Nachbarn, Freunden oder Verwandten ein Lebenszeichen ausgetauscht. Wahrscheinlich hätten wir ohne Corona längere Zeit nichts voneinander gehört.
Welche Wandlungen in der nächsten Zeit uns noch erreichen - warten wir es ab!

Lieber Uwe!

Du beschreibst da wunderschöne Beispiele für die Verwandlung der „schmerzlichen“ in „erfreuliche Erfahrungen“, wie sie der Dalai Lama nennt.
Als ich darüber nachdachte, ist mir etwas aufgefallen: Der Dalai Lama schreibt über die Verwandlung der Erfahrungen: Sie werfen „ein Licht auf das Glück“. Im tibetischen Buddhismus wird die Religion als Pfad zu einem wahren Glück beschrieben. Dieses Glück ist also das Ziel unseres Lebensweges. Das ist aus christlicher Sicht etwas anders, denn da ist ja das Gottesreich unser Lebensziel.
Ich überlegte, ob das Wort „Glück“ in der Bibel überhaupt vorkommt und was es bedeutet. Mir fiel zunächst gar nichts ein. In der Kirche sprechen wir eher von Seligkeit oder Segen, damit es keine Verwechselung mit Glückssträhnen beim Spiel oder Glücksversprechungen in Horoskopen kommt.
Dann erinnerte ich mich an eine Jahreslosung, übrigens von 2014, aus Psalm 73, 28: „Gott nahe zu sein ist mein ganzes Glück“. Ich hoffte, eine genauere Beschreibung des Glücks aus dem Textzusammenhang zu erkennen und schlug die Lutherbibel auf. Du wirst jetzt bestimmt schmunzeln, wenn ich Dir schreibe, was ich da entdeckte. In dieser Übersetzung steht nämlich: „Das ist meine Freude, dass ich mich zu Gott halte…“. Während der Wortlaut der Jahreslosung aus der Übersetzung „Die gute Nachricht“ stammt, fügen die Lutheraner an dieser Stelle das Wort „Freude“ statt „Glück“ ein.
Für mich ist das ein großer Unterschied, ob ich von Glück oder Freude spreche. Als Pastor habe ich schon oft Sätze gehört wie diesen: „Ich war schwer krank und habe gebetet. Aber es gab niemanden, der mir geholfen hat. Deshalb bin ich aus der Kirche ausgetreten.“ Andere erzählten dieselbe Geschichte mit einem anderen Ende: „Ich war schwer krank und habe gebetet. Dann bin ich gesund geworden und seitdem glaube ich an Gott.“ Da könnte man sagen: „Die einen haben eben Glück gehabt, die anderen leider Pech.“ Aber das entspricht überhaupt nicht meinem Glauben, dass Gott den einen Glück und den anderen Pech gewährt. Überzeugender sind für mich Menschen, die zum Beispiel sagen: „Ich war schwer krank. Ohne meinen Glauben wäre ich verloren gewesen.“ Aus diesen Worten spricht das Erlebnis von Gottesnähe. Ich höre da Dankbarkeit und Freude über Nähe und Gemeinschaft – egal, ob jemand hinterher wieder gesund ist, oder nicht. Wir alle werden doch eines Tages in die Situation kommen, dass wir nicht gesund werden können. Wie schön, wenn man dann nicht alleine ist. Wie gut, wenn jemand mich nicht loslässt und den schweren Weg mit mir gemeinsam geht. Wie tröstlich, wenn ich bis dahin vielleicht die Möglichkeit habe, andere Menschen in ähnlicher Weise zu begleiten und ihnen Freude zu schenken:
"Wer sich um Andere kümmert, wenn sie Hilfe brauchen, hat später viele Leute, die er um Hilfe bitten kann, wenn er selbst Schwierigkeiten hat. Und wenn es mit ihm zu Ende geht, werden viele Leute das Gefühl haben, dass sie einen wunderbaren Menschen verloren haben. Deshalb entspricht Mitgefühl dem gesunden Menschenverstand”. (S.270)
So lautet das vierte Zitat aus dem „Buch der Freude“, das du mir geschrieben hast. Mitgefühl ist nicht nur in diesen Tagen ein Geschenk des Himmels und ein großartiger Grund zur Freude.

Lieber Michael,

nun hast Du in Deinen Ausführungen eine nachvollziehbare theologische Perspektive eingenommen. Ich möchte es nun mit einer eher psychologischen Sichtweise versuchen.
Im Zusammenhang mit dem Wort "Mitgefühl" kommt mir das Wort "Empathie" in den Sinn. Was ist darunter zu verstehen? Empathie ist die Fähigkeit und Bereitschaft, wahrzunehmen, was in einem Anderen vorgeht, Gedanken, Emotionen und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu erkennen und zu verstehen. Ebenfalls zur Empathie gehört auch die Reaktion auf die Gefühle anderer Personen, wie z.B. Mitleid und Trauer.
Wie empathisch, wie mitfühlend, ist also unsere Gesellschaft in der Corona-Krise? Viele Menschen gehen für Andere einkaufen, führen deren Hund aus, nehmen Kontakt zu Nachbarn auf. 70% der Bundesbürger haben nach eigenen Angaben ein (sehr) gutes Verhältnis zu Personen in ihrer unmittelbaren Umgebung. Sogar 4% hatten mehr Kontakt, als vor der Corona-Krise. Nicht nur Kirchen und soziale Einrichtungen bieten vielfältige Hilfsangebote an, sondern es gibt offenbar eine Welle der Hilfsbereitschaft.
Wird durch eine Krise die Gesellschaft empathischer, nimmt also der gesunde Menschenverstand zu?
Auch wenn wir nicht von jetzt auf gleich wahrnehmen können, was in anderen Menschen vorgeht, ihre Gedanken und Emotionen verstehen, so können wir doch aus gleicher oder ähnlicher Betroffenheit mit ihnen fühlen und uns in sie ansatzweise hineinversetzen.
Wie die beiden geistlichen Herren erklärt haben, ist die "Basis" für die menschliche Empathie in uns Menschen angelegt, (weiter-) entwickeln muss sie sich aber durch gelebtes Leben und Erfahrungen. Eine Krise wird mit großer Wahrscheinlichkeit erheblich dazu beitragen.
Und da Empathie bzw. Mitgefühl nach meiner Auffassung auch etwas mit Uneigennützig- und Selbstlosigkeit zu tun haben, opfert sich der Mensch oder seine Mittel im Sinne reiner Menschenliebe auf, um Anderen zu helfen - ohne erwartete "Gegenleistung".
Nun, lieber Michael, das nächste Zitat trifft doch uneingeschränkt Dein theologisches Selbstverständnis, oder?
"Gott steht für Gemeinschaft und Verbundenheit...wir sind von ihm erschaffen worden, um aufzublühen. Und das tun wir in der Gemeinschaft. Wenn wir egozentrisch werden und uns in uns selbst zurückziehen, dann werden wir mit großer Sicherheit eine tiefe, tiefe, tiefe Frustration erleben”. (S.75)

Lieber Uwe!

Du hast Recht, denn mit diesem Zitat, das zweifellos vom Erzbischof stammt, hast du dem Theologen in die Karten gespielt. Schöpfung, Gemeinschaft und Nächstenliebe gehören zu den grundlegenden Bekenntnissen des christlichen Glaubens.
Hast du auch darüber nachdenken müssen, wer überhaupt mit dem „wir“ gemeint ist? Nur die beiden Gesprächspartner? Oder diejenigen, die an Gott glauben? Oder alle Christen und tibetischen Buddhisten? Oder sogar alle Menschen?
Das Personalpronomen „wir“ kann verbindend und trennend verstanden werden:
Während ich diese Zeilen schreibe, habe ich gerade über den Präsidenten der USA gelesen, dass er eine große Schuld an der Corona-Infektionsausbreitung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in die Schuhe schiebt. Es liegt auf der Hand, anzunehmen, dass er vom eigenen Versagen ablenken möchte. Außerdem behauptet er, die WHO diene in erster Linie anderen Ländern als den USA und stellt die Beitragszahlungen an diese humanitäre Organisation ein. Für so einen Präsidenten steht das „wir“ exklusiv für die eigene Nation. „America first“, wie er seinen Wählern versprach („take care of this country first before we worry about everybody else in the world“).
Vermutlich hat Desmond Tutu mit „wir“ etwas ganz Anderes gemeint: Nicht „wir Christen“ oder „wir zwei Freunde“, sondern „wir (oder alle Menschen), die sich nach Freude sehnen“, denn darauf läuft ja der Inhalt des Buches hinaus.
Am Ostersonntag habe ich vor der Senioreneinrichtung "Lebensbaum" Saxofon gespielt. Viele Senioren hörten mit Sicherheitsabstand im Garten oder an offenen Fenstern zu und spendeten Applaus, als ich fertig war.
„Warum applaudieren diese Menschen, denen ich eine Freude machen wollte?“, fragte ich mich hinterher. Da kam ich zu dem Schluss, dass sie den Wunsch hatten, als Dankeschön mir eine Freude zu schenken. Der Beifall war ihr Geschenk an mich. Das ist doch ein sehr gelungenes Beispiel dafür, dass man gegen eigene Frustration anarbeitet, indem man anderen eine Freude macht.
Übrigens: Obwohl ich schon oft im "Lebensbaum" Gottesdienste geleitet habe, war dieser Ostersonntag eine ganz einmalige Erfahrung für mich. Irgendwie hatte ich das Gefühl, ich wäre den Bewohnern noch nie nähergekommen, als an jenem Sonntag, trotz des riesengroßen räumlichen Abstands zueinander.
"Wir kommen Anderen nicht wirklich nahe, wenn unsere Beziehung immer ganz prima ist. Es sind die harten Zeiten, die schmerzhaften Zeiten, die Traurigkeit und der Kummer, die uns enger zusammenschweißen”. (S.128)
Hätte das nächste Zitat, das du mir geschickt hast, lieber Uwe, passender sein können?

Lieber Michael,

das sich nahe kommen hat wohl zwei verschiedene Dimensionen: Eine körperliche und eine emotionale. Durch das Corona-Virus ist die körperliche Nähe auf zwei Meter Abstand / Distanz zu halten. Den Einen wird das durchaus recht sein, besonders in dem Fall, dass man seine(n) Mitmenschen sowieso "nicht riechen kann". Den Anderen wird etwas fehlen, zum Beispiel die Umarmung bei der Begrüßung - wie sie auch in christlichen Kreisen immer häufiger zu beobachten ist. Letzteres hat aber nicht zwangsläufig etwas mit emotionaler Nähe zu tun und ist weder von guten noch von schlechten Zeiten abhängig.
Die räumliche Nähe ist wahrscheinlich im Zitat nicht gemeint. Es geht um die emotionale, menschliche, persönliche Nähe. Der Volksmund sagt: "Geteiltes Leid, ist halbes Leid, geteilte Freude, ist doppelte Freude"- von Mensch zu Mensch.
Dass es aber für dieses Zitat vielfältige Beweise gibt, belegen die Erzählungen unserer Großeltern und Eltern, die Hunger, Not und Krieg erlebt haben. Man hat sich in diesen Zeiten unterstützt und nach Möglichkeit geholfen. "Einer trage des Anderen Last..." Woher nimmt aber die sog. jüngere Generation ihre Erfahrungen mit harten, schmerzhaften Zeiten? Leben wir gegenwärtig überwiegend glücklich und unbeschwert, oder war doch früher alles besser? Je härter die Zeiten, desto größer der Zusammenhalt?
Es sei eine kurze Rückbetrachtung auf das Leben "früher" erlaubt.
Insbesondere das Gemeinschaftsgefühl und der Zusammenhalt sind vielen älteren Menschen positiv in Erinnerung geblieben. Viele vergleichen ihr früheres Leben kurz nach dem Krieg mit dem heutigen und kommen zu dem Schluss, dass die Zwischenmenschlichkeit, die Hilfsbereitschaft, aber auch die innere Zufriedenheit ausgeprägter und besser waren, als heute. Man sprach davon, das Miteinander sei heute verloren gegangen. Ursache dafür, warum die zwischenmenschlichen Beziehungen heute nicht mehr so ausgeprägt seien, wie früher, sei die immer weiter fortschreitende Individualisierung der Gesellschaft – im Besonderen die Selbstbezogenheit der Menschen.
Ist also unser zur Zeit deutlich erkennbar besserer gesellschaftlicher Zusammenhalt trotz oder sogar wegen der Corona-Krise entstanden? Braucht es gar harte, schmerzhafte Zeiten mit Traurigkeit und Kummer, die uns enger zusammenschweißen? Wie wird die Zeit nach der Krise, was werden wir daraus gelernt haben? Nimmt die von den älteren Menschen beklagte Individualisierung und Selbstbezogenheit wieder zu, wenn wir Corona hinter uns gelassen haben?
Wie kommt es, dass wir individuell diese Krise so unterschiedlich wahrnehmen, wie belastet und eingeschränkt wir uns fühlen, ob wir optimistisch oder pessimistisch in die Zukunft schauen? Die Psychologie erklärt das mit dem Begriff "Resilienz", also mit der Fähigkeit eines jeden Menschen, außergewöhnliche Anforderungen und schwierige Situationen ohne negative Folgen für die psychische Gesundheit zu bewältigen.
Die Entwicklung der persönlichen psychischen Widerstandsfähigkeit ist nicht nur für die erfolgreiche Bewältigung vorhandener Probleme, sondern auch für die Möglichkeit, auf zukünftige Lebenswidrigkeiten, wechselnde Bedingungen und erhöhte Belastungen angemessen und flexibel zu reagieren, von großer Bedeutung. Die Corona-Krise wird dazu entscheidend beitragen!

Auf die Frage, wann die Welt wieder so sein wird, wie vor der Pandemie, ist die am häufigsten gehörte Antwort : "Nie!" Im Sinne eines besseren sozialen Miteinanders, der intensiveren emotionalen Nähe, des gesteigerten Wir-Gefühls nach Corona, bleibt zu hoffen, dass die Antwort stimmt!
So, lieber Michael, kommen wir zum letzten Zitat aus dem Buch der Freude. Die siebte Textstelle spricht noch einmal eine sehr sympathische "Empfehlung" aus, die wir uns zu Herzen nehmen sollten. was meinst Du?
"Das Leben ist hart, keine Frage, und mit Lachen können wir die Ironie, die Grausamkeiten und die Unsicherheiten ertragen, denen wir begegnen...
Wenn wir uns auf die Suche nach dem Humor im Leben machen, werden wir ihn finden. Dann werden wir uns nicht mehr fragen: „Warum hat es ausgerechnet mich getroffen?”, sondern wir werden erkennen, dass wir alle mit dem Leben fertigwerden müssen”. (S.235/36)

Lieber Uwe!

Dieses letzte Zitat stellt mich auf eine harte Probe: Einerseits stimme ich inhaltlich voll und ganz zu: auch für mich ist Humor etwas sehr Wichtiges. Er kann helfen, mich aus einer depressiven Lebenshaltung wieder herauszuwinden und eine positive Sicht auf das Leben zu bekommen. Andererseits bedeutet das Zitat auch, dass man aktuell Witze über das Coronavirus machen sollte, um mit der bedrohlichen Situation besser umgehen zu können – und das traue ich mich nicht, weil es falsch verstanden werden könnte, etwa als Verharmlosung oder gar Zynismus.
Wenn ich mich richtig erinnere, beschreiben der Dalai Lama und der Erzbischof im „Buch der Freude“ sehr ausführlich die Zwiespältigkeit des Humors, denn dieser kann auch sehr verletzend sein – zum Beispiel, wenn man sich über Andere lustig macht, wenn der Humor pietätslos wird, wenn er gerade am falschen Platz ist, oder diskriminierend. Nicht immer lässt sich vorhersehen, dass Witze gerade unpassend sind, anders verstanden werden, als man sie meinte, oder auf Mitmenschen negativ wirken - das kann dann ganz schön peinlich werden! Trotz dieses Risikos mag ich auf Humor nicht verzichten.
Da fällt mir doch noch ein aktuelles Beispiel zur Corona-Krise ein: Die Klopapierwitze! Was soll man denn dazu sagen, wenn ein Volk sich auf eine Seuche vorbereitet und die Menschen – sei es aus Gedankenlosigkeit oder Egoismus – das ganze Klopapier aus den Läden heraustragen? So etwas lässt sich doch nur mit einem schmunzelnden Kopfschütteln ertragen! Außerdem glaube ich, dass solche Witze eine positive Wirkung haben können, indem sie nicht durch Ermahnungen oder Verbote, sondern durch einen augen-zwinkernden Appell dazu aufrufen, zukünftig von Hamsterkäufen abzusehen.
Das war nun das letzte Zitat, lieber Uwe, das du mir zugesandt hast. Es war mir eine große Freude, diese ausgewählten Textstellen (meistens abends) unter meinen Mails zu finden. Der Austausch mit unseren Briefen war dann noch das Tüpfelchen auf dem „i“. Es hat mir sehr gutgetan, dass du mich gerade in dieser Ausnahme-Karwoche immer wieder auf das Thema „Freude“ aufmerksam gemacht hast. Danke schön!!!

Liebe Leserinnen, liebe Leser!

Im Laufe unseres Briefwechsels kam uns beiden die Idee, unsere Gedanken mit Ihnen zu teilen und zu veröffentlichen. Wir sind uns relativ sicher, dass Ihnen diese Lektüre gefallen hat, denn sonst hätten Sie wahrscheinlich nicht alles bis zum Ende gelesen.
Wir freuen uns über Ihr Interesse und danken dafür recht herzlich.
Zum Abschluss sei ein kleines Beispiel für Freude hinzugefügt.
Der folgende Witz ist dem Buch von Hellmuth Karasek "Soll das ein Witz sein? Humor ist, wenn man trotzdem lacht" entnommen und fasst kurz zusammen, welche Folgen die jeweiligen - religiösen - Sichtweisen haben können. Viel Spaß!
Ein Priester, ein Imam und ein Rabbi diskutieren, was ihre Gemeinden wohl tun würden, wenn eine neue Sintflut die Erde überschwemmte.
“Wir würden zu Gott beten, dass er uns retten möge”, sagte der Priester.
“Wir würden unser Schicksal als Kismet annehmen und zu Allah aufsteigen”, meinte der Imam.
Und der Rabbi sagte: ”Wir würden lernen, unter Wasser zu leben”.

Bleiben Sie gesund und erfreut!

Uwe Förster und Michael Hensel

P.S. Wir freuen uns über Rückmeldungen und Kommentare (U.F. & M.H.)